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Wenn das Gehirn nicht mehr filtert: Leben mit dem Zappelphilipp-Syndrom

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, bekannt als ADS/ADHS, ist die häufigste psychiatrische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter und wird auch bei Erwachsenen regelmäßig diagnostiziert. Beeinträchtigt sie das Leben der Patienten, raten Experten häufig zur Therapie mit dem Wirkstoff Methylphenidat. Die IKK Südwest hat mit dem Saarbrücker Kinderpsychiater Dr. Andreas Vogel über das Krankheitsbild und den Einsatz von Psychopharmaka gesprochen.

Was ist der Auslöser für eine Aufmerksamkeitsdefizit-/hyperaktivitätsstörung?

Das Krankheitsbild ist hauptsächlich genetisch bedingt. Als eine der Ursachen für die Symptome vermutet man eine Filterstörung des Gehirns. Das Gehirn kann nicht entscheiden, was wichtig und was unwichtig ist. Es ist von Reizen überfordert. Das heißt, in einer Situation in der ein Kind zum Beispiel alleine ist oder sich in einer reizarmen Umgebung aufhält, kann es sich auch länger alleine konzentriert beschäftigen, ist sogar kurzzeitig zu Höchstleistungen bereit. Es kann dies aber nicht kontinuierlich machen und ist dann, wenn die Umgebung reizstark wird, auch in Situationen ablenkbar, die es eigentlich interessieren.

Können Sie eine typische Situation beschreiben?

Ja, das ist oft ganz banal: Ein Kind sitzt bei den Hausaufgaben, draußen fährt ein Auto vorbei, das Kind flitzt direkt zum Fenster und schaut hinaus. Oder es klingelt und das Kind rennt zur Tür – auch wenn es eigentlich mit etwas beschäftigt ist, was es interessiert.

Dies allein macht aber ja noch keine ADS/ADHS-Symptomatik. Müssen sich solche kleinen Zwischenfälle kumulieren, um sich zu einem Krankheitsbild zu formen? Wann ist der Moment, ab dem Eltern aufhorchen sollten?

Richtig. Es müssen viele Dinge zusammenkommen. Die Eltern spüren meist recht früh, wenn etwas nicht stimmt. Außerdem fällt es meist auch im Kindergarten auf, spätestens aber nach der Einschulung. Ein Anzeichen kann dann zum Beispiel sein, dass das Kind nicht sitzenbleiben kann und nur in der Klasse rumrennt. Manchmal auch aus hehren Zielen, es bekommt alles mit, nimmt alles wahr und möchte zum Beispiel anderen Kindern helfen. Auch hier wieder das Filterproblem: Das übergeordnete Ziel „Ich bin hier Teil der Klasse und soll sitzenbleiben“ hat das Kind nicht verinnerlicht und kann es demnach nicht leisten.

Der Wirkstoff, der dann oft verordnet wird, heißt Methylphenidat. Die meisten sprechen aber von Ritalin.

Das ist nur ein mögliches Medikament, das bei ADS/ADHS gegeben werden kann. Methylphenidat fällt unter das Betäubungsmittelgesetz. Es ist, wenn man es richtig gibt, eines der nebenwirkungsärmsten Psychopharmaka. Im Vergleich zu Antidepressiva hat es deutlich weniger Nebenwirkungen und es hat eine deutlich höhere Effektstärke. Es ist bei etwa 70-80 % der Patienten mit ADS/ADHS wirksam, wobei die Verordnungen ganz verschieden getroffen werden können. Also wenn z.B. nur eine Konzentrationsstörung für die Schule vorliegt, können Sie das Medikament auch nur für die Schule verordnen, d.h. ich gebe ein kurzwirksames Medikament, das vier, fünf Stunden wirkt, und gebe es nur an Schultagen, weder an Wochenenden noch in den Ferien. Das kann man bei etwa 30-35 % der Patienten, die wir behandeln, so machen.

Wenn wirklich das Schulproblem im Vordergrund steht, kann das Kind durch das Medikament deutlich bessere Ergebnisse erzielen und hat deutlich mehr Selbstwertgefühl.

Oft heißt es ja, ADS/ADHS-Kinder müsse man ruhigstellen.

Genau darum geht es nicht. Wenn ein Kind damit ruhig gestellt ist, ist das Medikament immer überdosiert. Die Kinder sollen mit dem Medikament besser zuhören, besser filtern können. Bei manchen Kindern muss man ein längerfristiges Präparat geben, das dann auch für den Nachmittag wirkt, und bei manchen kann man es auch an Wochenenden nicht weglassen, vor allem, wenn eine Störung des Sozialverhaltens dazukommt.

Wann tritt das Krankheitsbild meistens in Erscheinung?

Teilweise schon vor Kindergartenalter. Die Kinder sind sehr impulsiv, bringen sich oft auch in Gefahr, weil sie nicht filtern können. Das heißt, Sie gehen mit dem Kind ins Schwimmbad, das Kind sieht das Wasser, rennt los und springt ins Wasser. Dass es noch keine Schwimmärmchen anhat, merkt es erst, wenn es bereits im Wasser ist. Oder Sie sagen dem Kind, du musst beim Überqueren der Straße aufpassen, immer erst nach rechts und links gucken, das Kind sagt ja, weiß ich. Dann ruft von drüben einer „hallo“ und das Kind läuft unvermittelt los, ohne zu gucken. Aggression ist übrigens kein Kernpunkt bei ADS/ADHS, das wird oft verwechselt.

Insbesondere bei kleinen Kindern sollte man aber mit der Diagnosestellung sehr vorsichtig sein. Medikation im Vorschulalter ist sowieso die absolute Ausnahme, das gibt es ganz selten. Wenn zum Beispiel der Kindergarten sagt, das Kind ist gar nicht steuerbar, wir schmeißen es raus, dann kann man das versuchen. Es ist natürlich wichtig, dass man die Kinder beobachtet, aber man sollte sie nicht gleich in eine Schablone pressen – wenn die Diagnose zu früh gestellt wird, ist die Gefahr einer Fehldiagnose deutlich häufiger als im späteren Alter.

Verwächst sich ADS/ADHS?

Jein. Man hat ja früher gehofft, dass das nach der Pubertät nicht mehr auftritt. Was deutlich zurückgeht, ist die Hyperaktivität – die körperliche Unruhe verschwindet also nach der Pubertät in der Regel weitgehend. Die Leute bleiben weiterhin lebhaft, aber sie sind nicht mehr so ungesteuert. Was aber leider in vielen Fällen bleibt, sind Probleme bei Arbeits- und Zeitmanagement. Das ist bei erwachsenen ADS/ADHS-Patienten im Vordergrund.

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

Gerne. Ich hatte mal einen Jungen in Behandlung, der bis zum Abitur Methylphenidat bekommen hat. Danach haben wir es abgesetzt, weil wir dachten, es klappt jetzt ohne Medikation. Er begann ein Studium und kam nach 2,3 Wochen ohne Termin und verzweifelt zu mir in die Praxis. Er wollte sein Studium schmeißen, weil er ohne das Medikament nicht klar kam. Ich glaubte ihm erst nicht, bis er mir seine Aufzeichnungen von dem Tag zeigte. Ich bin fast vom Stuhl gefallen. Alles kreuz und quer, total undifferenziert hatte er geschrieben, was der Professor gesagt hatte, ohne irgendeinen Plan. Wenn der Dozent gesagt hätte, ich muss jetzt auf die Toilette, hätte er das aufgeschrieben. Wir haben dann ein niedrig dosiertes Medikament verordnet und er hat sein Studium beendet. Es ist wirklich dieses Erkennen, was wichtig ist und was nicht. Arbeitsmanagement, Arbeitsstruktur – das kennt jeder aus seinem Beruf. Sie kennen Mitarbeiter, die sehr strukturiert sind und die immer um 17 Uhr fertig sind, und Sie kennen andere, die für die gleiche Arbeit 2 Stunden länger brauchen.

Kann es im Falle eines sehr unstrukturierten Erwachsenen auch eine „verschleppte“ ADS/ADHS-Diagnose sein?

Bei diesem Thema ist die Welt nicht schwarz und weiß. Es gibt ja keine Leute, die nur ADS/ADHS-Symptome haben und welche, die gar keine haben. Jeder ist mal unkonzentriert oder vergesslich, ich zum Beispiel habe immer meinen Schirm in der Bahn vergessen. Teilsymptome haben viele Menschen. Die Diagnose kann man erst stellen, wenn die Symptome wirklich übergreifend, d.h. in allen Situationen, auftreten, und wenn sie wirklich einen Krankheitswert besitzen.

Definieren Sie „Krankheitswert“.

Krankheitswert spricht man, wenn derjenige oder die Gesellschaft darunter leidet. Ich gebe ja niemandem ein Medikament, damit der statt einer 2 eine 1 schreibt.

Wie entscheiden Sie denn, wer das Medikament bekommt?

Ein wichtiges Kriterium ist, wenn ein sozialer Abstieg droht. Wenn die Schule ihn rauswerfen will, wenn er auf eine Förderschule soll. Heute gibt es bereits in der ersten Klasse „unbeschulbare Kinder“, das gab es früher nie. Wenn ein sozialer Abstieg droht, ist eine Medikation klar indiziert. Aber: Individuell einstellen, immer wieder checken, immer wieder die Kinder sehen. Niedrig dosiert anfangen, vier Wochen warten, Kind wieder sehen, dann entscheiden. Jeder braucht individuell unterschiedliche Dosen. Zum Teil brauchen kleinere Kinder höhere Dosen als Jugendliche. Ich kann so etwas nicht den Eltern überlassen. Ich muss die Kontrolle haben und ich muss bei den großen Jugendlichen kontrollieren, dass die das Medikament auch verwenden und nicht gegen ein bisschen Cannabis eintauschen.

Gibt es Alternativen zu den Medikamenten?

Man kann versuchen, mit Instruktions- oder Aufmerksamkeitstraining zu arbeiten. Wenn die Kinder älter werden, können die lernen, sich mit Selbstdisziplin zu strukturieren, indem sie Regeln befolgen, zum Beispiel immer nur eine Sache auf einmal zu machen und alles nacheinander abzuarbeiten.

Macht der Körper eigentlich einen Entzug durch, wenn man das Medikament weglässt?

Vernachlässigbar. In der Regel passiert da erstmal gar nichts, außer dass die Symptomatik wieder auftreten kann. Eine Studie aus den USA hat sogar ergeben, dass der Körper sich bei Langzeitgabe an das Präparat gewöhnt und es irgendwann nicht mehr wirksam ist. Wir machen es zum Beispiel auch bei all unseren Patienten so, dass sie in den Schulferien pausieren. Wenn natürlich eine Störung des Sozialverhaltens hinzukommt oder es eine sehr ausgeprägte Symptomatik ist, ist es oft schwer, das Medikament wegzulassen.

Sie bewerten also den Status Quo immer neu und entscheiden von Rezept zu Rezept?

Ja. Bei den Kindern entscheiden ja eher die Eltern, dass sie das nehmen. Wenn sie aber 13- oder 14-Jährige haben, erleben Sie oft, dass die keine Medikamente mehr nehmen möchten. Ich kann einem 14-Jährigen ja kein Medikament aufzwingen. Dann setzen wir es ab und schauen gemeinsam, was passiert. Es gibt z.B. die Möglichkeit, es mit Placebos zu probieren: Die Patienten erhalten eine Verpackung, die aussieht wie die, die sie kennen – und nur ich weiß, wann ein Wirkstoff gegeben wurde und wann nicht. Dann kann man sehen, ob eine Wirkung auftritt oder nicht. In den meisten Fällen merken das eher die Familien und die Schulen als die Kinder selbst. Die Jugendlichen spüren dann später wieder, gegen Ende der Pubertät, wenn es in der Schule ans Eingemachte geht: Ich kriege es nicht mehr geregelt. Die Struktur ist einfach nicht da, diese Kinder schwimmen in Reizen. Ohne Struktur kann ich keine vernünftige Lernleistung bringen.

Während die Zahl der Verordnungen für Kinder seit einigen Jahren stagniert, steigt die Zahl der Methylphenidat-Rezepte für Erwachsene. Bei der IKK Südwest in den vergangenen sechs Jahren sogar um ein Vierfaches. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Ja, das liegt auf der Hand. Die Bereitschaft der Erwachsenen-Psychiater, sich überhaupt mit dem Thema ADS/ADHS auseinanderzusetzen, ist sehr gewachsen in den vergangenen Jahren. Bei den Familien ist nochmal ein kritischerer Blick da, im Vergleich zu vor ein paar Jahren, als viele kamen und das Medikament für ihre Kinder wollten. Viele Ärzte fanden ADHS-Patienten zu nervig, weil sie sich nie mit dem Krankheitsbild auseinandergesetzt haben. Im Saarland gab es bis vor einigen Jahren auf diesem Gebiet lediglich Diagnostik – keine Behandlung. Es gab bis auf wenige Ausnahmen einfach kaum Erwachsenen-Psychiater, die Ahnung davon hatten, das muss man einfach so sagen. Das hat sich heute Gott sei dank geändert.

Wie kam der Sinneswandel?

Inzwischen haben wir mehr Aufklärung bei Ärzten. Dazu kommt, dass auch die Erwachsenen sensibler sind und bei sich selbst diese Problematik erkennen und dann auch konsequent zum Arzt gehen, weil ihre Lebensqualität darunter leidet und der Leidensdruck hoch ist. Das erklärt die Steigerung der Verordnungen. Erwachsene Patienten stellen auch schnell fest: Davon profitiere ich, ich bekomme mein Leben wieder auf die Reihe, beruflich und privat. Natürlich gibt es auch hier mehrstufige Tests, bis es zur Medikation kommt.

Immer wieder wird aber darüber berichtet, dass Ritalin als Studentendroge im Trend liegt, weil dadurch bessere Noten möglich sind.

Pardon, das ist Unsinn. Ganz ehrlich, eine normale gesunde Person würde bei einer normalen Dosierung nichts merken. Bei hohen Dosen auf Dauer ist das Schlafdefizit in der Tat irgendwann so hoch, dass die Gefahr besteht, dass das Ganze umkippt. Bei hochdosierter Gabe kann das sogar zu Psychosen führen. Einen Placebo-Effekt würde ich nicht ausschließen bei den Studenten, aber in meinen Augen ist das nicht haltbar.

Würden Sie Missbrauch denn erkennen?

Es bekommt ja eh keiner sofort Medikamente verordnet. Wir machen erstmal eine ausführliche Diagnostik. Dazu gehören auch Fragebögen von den Eltern, der Schule, etc. Wenn zum Beispiel jetzt jemand nur in der Schule als auffällig beurteilt wird und zuhause nicht, deutet das eher darauf hin, dass er dort unter- oder überfordert ist. Zu den Fragebögen kommt natürlich noch eine Aufklärung und weitere medizinische Tests, Blutbild, EEG, EKG…. das wird auch regelmäßig kontrolliert.

ADS/ADHS muss übergreifend sein, muss überall auftreten, sonst bekommt er keine Medikation. Natürlich, wenn jemand sehr geschickt ist, könnte er den Arzt täuschen. Ich will von mir nicht behaupten, dass ich jeden Missbrauchsversuch erkennen würde. Im Laufe der Zeit bekommen Sie auch dafür ein Gefühl.

Außerdem hat man, wenn man BTM verordnet, als Arzt auch immer die Vorrezepte im Blick. Jemand, der süchtig ist, wird schnell an die Grenzen des Systems stoßen. Wir schauen da genau hin. Wenn ein Patient statt alle sieben alle vier Wochen auf der Matte steht, bekäme er nichts. Und die Leute müssen auch weiterhin bei uns vorstellig werden. Ich muss den Patienten sehen. Ich will, dass da die Compliance stimmt. Immerhin steht mein Name darunter, ich übernehme die Verantwortung.

In Ihre Verantwortung fällt auch, dass der Patient sein Leben in den Griff bekommt – egal, ob er 6, 16 oder 26 Jahre alt ist.

Ja genau. Wie gesagt, uns geht es nicht darum, dass wir ein Kind medikamentös einstellen, damit es eine 3 statt einer 5 schreibt. Es geht darum, dass das Kind sozial zurechtkommt, dass es sich gesund entwickeln kann, dass es ein eigenständiger Mensch wird, der auch soziale Kompetenzen hat und gesellschaftlich, beruflich und familiär klar kommt. Das haben sie bei jemandem, der unbehandelt mit ADS/ADHS lebt, nicht. Ich gehe sogar so weit, zu sagen: Wenn jemand gut eingestellt ist mit einem ADS/ADHS-Medikament, spart er der Gesellschaft Kosten. Jemand, der unbehandelt lebt, verursacht viele Folgekosten.

Sie sagen, dass Sie gerne mit ADS/ADHS-Patienten zusammenarbeiten. Inwiefern bereichern sie Ihre Arbeit?

Ich mag die Arbeit mit ADS/ADHS-Patienten unheimlich gern. Die sind dankbar, wenn ihnen jemand zuhört und ihnen nicht nur zurückmeldet, dass sie chaotisch sind. Das sind Menschen mit ganz vielen tollen Ideen. Okay, manchmal zu viele Ideen, aber das ist doch besser als jemand, der gar keine Ideen hat, oder?


Hintergrundinformation: ADS/ADHS

ADS/ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist die häufigste psychiatrische Erkrankung des Kindes- und Jugendalters. Es ist ein genetisch bedingtes Krankheitsbild. Die Zahlen bleiben weltweit auch relativ konstant bei etwa 5 % der Kinder im Alter von 3 bis 17 Jahren. Bei etwa 60 % der Betroffenen bleiben wesentliche Symptome der ADHS auch im Erwachsenenalter bestehen. Das bedeutet, dass etwa 3-3,5 % der Erwachsenen betroffen sind. Die Erkrankung wird bei Jungen etwa viermal häufiger diagnostiziert als bei Mädchen.

Das Interview führte die IKK Südwest mit Dr. Andreas Vogel, Kinderpsychiater in Saarbrücken, am 12. Juni 2017.